Sie starrte ihre Mutter an, die wie jeden Tag im Hausflur stand und auf die Haustür starrte. Die Luft schien stehen zu bleiben, es fühlte sich an, als wären sie in einem Vakuum gefangen. Ana war vierzehn Jahre alt. Seit einem Jahr musste sie im Schatten eines Phantoms zurechtkommen. Das Phantom: Ihr Bruder. Er war nun schon ein Jahr lang veschwunden. Der Bruder, der die Hoffnung der Familie war. Der gutaussehende, charmante große Bruder, der der erste war, der es in eine Universität geschafft hatte. Ihre Eltern waren vor Stolz fast geplatzt. João. Sie seufzte. Ihre Mutter wartete seit einem Jahr darauf, dass die Tür aufging und João einfach so reinspazierte. Sie würden nicht einmal eine Erklärung verlangen. Sie wären einfach nur froh, dass er da war. Ana war nicht da, zumindest fühlte es sich so an. Der Vater hatte schon früher nichts mit ihr gesprochen, aber seit João weg war, hatte auch ihre Mutter Anas Existenz anscheinend vergessen. Würden sie es bemerken, wenn sie einfach nicht mehr nach Hause käme?
Der Bruder war durch seine Abwesenheit so anwesend wie nie zuvor. Sein Zimmer zu betreten war strikt verboten! Dabei hatten sie doch so wenig Platz in ihrem einfachen Häusschen. Man könnte zumindest seinen Schrank benutzen, dachte sich Ana. Nur bis er zurückkam... Falls. Alles im Leben dieser kleinen, verzweifelten Familie schien sich um João zu drehen. Ana ging oft zu Fuß zum nahegelegenen Supermarkt. Es war schon vorgekommen, dass sie einen jungen Mann sah und ihr Herz zu rasen begann. Einen flüchtigen Moment lang war sie sich sicher ihren Bruder vor sich stehen zu sehen, nur um sofort in tiefe Bestürzung zu fallen, wenn der wildfremde Mann sie verdutzt anschaute.
Die Zeit war für alle an dem Tag stehen geblieben, an dem João nicht nach Hause gekommen war. Sie hatten gewartet. Sie waren zu seinen Freunden gegangen. Zur Uni. Überallhin. Sie hatten versucht sich mit selbst ausgedachten Erklärungen zu beruhigen. Am nächsten Tag waren sie zur Polizei gegangen um ihn als vermisst zu melden. Sie waren durch die Straßen gewandert und hatten wildfremde Menschen gefragt, ob sie ihn gesehen hatten. Gerüchte kamen auf. Die Militärpolizei hätte ihn gefangen genommen. João hatte viele politisch aktive Freunde, aber der Meinung seiner Eltern nach würde er so etwas riskantes nie tun! Politische Proteste? Untergrundbewegungen? Etwas gegen das Militärregime tun? Das wäre doch verrückt! Ihr guter Junge, der musste studieren und etwas aus sich machen. Er konnte doch nicht alles aufs Spiel setzen wegen so blödsinniger kommunistischer Gedanken! Nein. Es gab eine andere Erklärung für sein verschwinden! Es musste eine geben. Falls es das Militärregime war, würde er nie wieder zurückkommen. Er wäre irgendwo gefangen. Oder verbuddelt. Oder in der Tiefe eines Sees. Sowas hätte er ihnen nie angetan.
Auch seine Freunde wussten von nichts. Niemand hatte eine Ahnung was mit João passiert war. Es schien Ana manchmal so, als hätte João eigentlich nie existiert. Als sei er eine Erfindung ihrer Familie. Aber dann, wenn sie in sein Zimmer schaute, sah sie seine Fotos an der Wand, die wenigen Schallplatten und Bücher im Regal. Sie vermisste ihren großen Bruder, auch wenn er sie oft wegen ihrer breiten Nase gehänselt hatte. Auch wenn er ihr im Flur morgens den Fuß stellte, damit sie hinfiel und er sie auslachen konnte. Sie vermisste es ihn Gitarre spielen zu hören. Sie erinnerte sich an die nassen Handtuchschlachten, die ihre Mutter mit Schreien zu verhindern versuchte. Joãos lachen war das schönste Lachen, das Ana jemals gehört hatte. Er hatte immer viel und laut gelacht. Seit er weg war, gab es nichts mehr zu lachen. Ana starrte ihre Mutter an, die immer noch im Hausflur stand und wartete.
No comments:
Post a Comment